«Ein grosses Tier, das man kaum sieht – das ist faszinierend»
Im selben Jahr, in dem der erste Braunbär wieder in die Schweiz einwanderte, trat Curdin Florineth seine Stelle als Wildhüter beim Amt für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden an. Seither blickt er auf rund 20 Jahre Erfahrung mit durchziehenden Bären zurück. KORA hat mit ihm gesprochen.
Ein Wildhüter zwischen Mensch und Bär
Als 2005 klar wurde: «Es ist wieder ein Bär in der Schweiz!» – weisst du noch, wo du damals warst, wie du davon erfahren hast und was dir durch den Kopf ging?
Das war mein erstes Dienstjahr als Wildhüter, nachdem ich vom Nationalpark zum Amt für Jagd und Fischerei gewechselt bin. Als der Bär auftauchte, waren wir gerade gemeinsam im Münstertal unterwegs. Die Aufregung war riesig – vor allem bei den Medien und den Touristen. Noch am selben Abend wurde eine erste Vergrämungsaktion geplant, aber der Bär zeigte sich nicht. Am stärksten blieb mir die grosse Menschenansammlung in Erinnerung. Das lag auch daran, dass er einige Male gut sichtbar am Ofenpass vorbeikam – nur, als wir Wildhüter da waren, zeigte er sich nicht. Wir nannten JJ2 dann «Lumpaz».
«Ein grosses Tier, das man kaum sieht – das ist faszinierend.»
Was waren danach die ersten Schritte, die ihr als Wildhut unternommen habt?
Zunächst mussten wir den Bären vergrämen, weil die Menschen zu nahe an ihn herankamen. JJ2 riss auch einige Schafe – das rückte ihn noch stärker ins Rampenlicht. Ganz allgemein war das Interesse der Öffentlichkeit enorm, viel grösser als heute. Auch spürten wir Unsicherheiten bei Wanderern und Jägern, die selbst Begegnungen mit dem Bären hatten. Wir Wildhüter hatten damals noch wenig Wissen zum Thema, es gab lediglich Verhaltensempfehlungen für Begegnungen. Für alle war dieser erste Bär eine Überraschung. Mir blieb auch in Erinnerung, wie aufwendig die Aufnahme von Schäden war.
Wie hast du damals die Stimmung in der Bevölkerung wahrgenommen?
Die Rückmeldungen waren intensiv. Viele Leute waren aufgebracht – zwischen Angst, Unwissenheit und der Erfahrung, dass man selbst nichts tun konnte. Wir Wildhüter wurden ständig darauf angesprochen, es gab fast kein anderes Thema mehr. Auch Journalistinnen und Journalisten meldeten sich dauernd, teilweise sogar auf unseren Privattelefonen. Für mich war das alles neu – und es gab damals beim Amt niemanden, der solche Anfragen koordinierte. Wir standen ziemlich exponiert da.
Welche Herausforderungen brachte dieser spezifische Bär (JJ2) mit sich, und wie seid ihr damit umgegangen?
Wir versuchten der grossen Aufregung mit offener und transparenter Kommunikation zu begegnen, was sich schon damals bewährt hat. Gleichzeitig gab es Menschen, die wirklich Angst hatten. Diese Sorgen muss man – damals wie heute- ernst nehmen.
«Ein Wildtier muss wild bleiben – wenn das nicht der Fall ist, muss man handeln.»
Ein Jahr später kam wieder ein Bär in die Schweiz (JJ3). Kannst du die Umstände schildern?
JJ3 kam den Siedlungen immer wieder sehr nahe und bereitete uns deshalb einiges an Arbeit. Sein Verhalten war unnatürlich, und überall, wo er auftauchte, versuchte man ihn zu vertreiben. Ein Wildtier muss wild bleiben – wenn das nicht der Fall ist, muss man es früher oder später entfernen. Zuvor versucht man natürlich, es zu vergrämen, wie es auch im Konzept Bär vorgesehen ist. JJ3 wurde schliesslich aus dem Helikopter narkotisiert und in der Nähe von Davos besendert und später geschossen.
Die meisten Bären in der Schweiz sind unauffällig und unproblematisch. Würdest du das unterschreiben?
Ja, unbedingt. Ohne technische Hilfsmittel wie Fotofallen würden wir viele Bären gar nicht bemerken. Oft verraten sie sich nur durch Spuren im Schnee. Schmilzt der Schnee, hat man das Gefühl, sie seien weg – dabei sind sie noch da. Faszinierend ist, wie ein so grosses Tier sich bewegen kann, ohne aufzufallen. Einmal hatten wir während der Jagdsaison einen Bären im Gebiet: Vor Beginn wurde er noch gesichtet, die ganze Jagd über jedoch nicht – erst danach konnten wir ihn wieder nachweisen.
«Faszinierend ist, wie ein so grosses Tier sich bewegen kann, ohne aufzufallen.»
Wie gut ist der Kanton Graubünden heute auf die Präsenz des Bären eingestellt?
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben uns viel gebracht. Vor allem auch, weil in all der Zeit nie ein Mensch gefährdet wurde. Heute können wir die Präsenz besser einordnen, die Angst ist kleiner, die Aufregung geringer. Dazu kommt, dass der Wolf die Bühne übernommen hat. Bär und Luchs stehen inzwischen klar im Schatten des Wolfs. Auch schadenverursachende Bären werden eher toleriert – nicht zuletzt, weil sie bisher immer wieder verschwunden sind, während der Wolf bleibt.
Auch beim Herdenschutz hat sich einiges getan. Nutztiere sind besser geschützt, Imker schützen ihre Bienenhäuser, und im ganzen Unterengadin und Münstertal gibt es bärensichere Abfallkübel. Damit ist eine wichtige Nahrungsquelle weggefallen. Die Menschen haben gelernt, dass auch sie etwas beitragen müssen. Zum Beispiel Abfälle nicht mehr für Füchse vor Hütten hinauszustellen – sonst lockt man eben auch grössere Tiere an. Das Bewusstsein dafür ist heute bereits viel grösser, aber es brauchte Zeit.
Sven Signer (KORA) im Gespräch mit Curdin Florineth (AJF GR) Sven Signer (KORA) im Gespräch mit Curdin Florineth (AJF GR)
© KORA
Was bedeutet die Rückkehr des Bären für den Menschen?
Für mich persönlich ist das sehr spannend. Ich bin gerne in einem Gebiet unterwegs, wo er sein könnte: Vielleicht findet man ja einen Hinweis auf seine Präsenz. Er ist eine Bereicherung für die Natur. Natürlich weiss ich, dass sogenannte Problembären auch Konflikte verursachen können.
Wie siehst du die Zukunft des Bären in der Schweiz und im Engadin?
Es werden immer wieder Bären auftauchen. Ich rechne eher mit unauffälligen Tieren und weniger mit einer Zunahme von Konflikten – auch wenn es natürlich jederzeit anders kommen kann. Ein einzelner Problembär kann vieles verändern.
Grundsätzlich gilt für alle Grossraubtiere: Man sollte nicht zu schnell zu viel erwarten. Wenn man den Menschen Zeit lässt, können sie sich arrangieren. Sind die Rahmenbedingungen klar, findet man Wege, mit ihrer Präsenz umzugehen.
An welche Momente mit Bären kannst du dich besonders gut erinnern?
Sehr eindrücklich waren die Beobachtungen auf grosse Distanz: Einen Bären auf 1-2km Distanz unbemerkt auf der Futtersuche zu beobachten, ist speziell. Ein anderes Mal kam ich ihm ungewollt zu nahe. Wir hatten einen Bären besendert, und am nächsten Tag wollte ich prüfen, ob der Sender funktioniert. Ich parkierte mein Auto, ging in den Wald und kam zurück. Als ich hinter das Auto trat, stand der Bär bei der Fahrertür. Wir waren beide überrascht. Mein Gummischrot lag leider im Auto – doch der Bär zog von selbst weiter. Später sah ich noch Spuren an meinem Pickup, es schien, als hätte er ins Auto hineingeschaut.
Wie stellst du dir ein ideales Zusammenleben von Mensch und Bär vor?
Da hat sich bereits einiges erfüllt. Ich wünsche mir, dass die Menschen nicht sofort reagieren, wenn irgendwo ein Bär auftaucht – also nicht gleich neugierig hingehen oder ihn vertreiben. Sondern dass sie ihm Respekt entgegenbringen. Ich habe den Eindruck, das hat sich schon deutlich verbessert.
Welche Lehren sollten zukünftige Generationen aus deiner Erfahrung mit dem Bären ziehen?
Wichtig ist, das Ganze im Blick zu behalten und nicht einzelne Aspekte der Thematik überzubewerten. Natürlich gibt es Probleme und Konflikte, aber daneben gibt es auch den ökologischen Wert. Wenn man alle Aspekte einer Sache berücksichtigt, fällt die Gesamtbeurteilung in der Regel positiv aus.
Was fasziniert dich am Bären?
Für mich ist faszinierend, dass wir so wenig über ihn wissen. Sein Verhalten ist schwer einzuschätzen – einen Wolf kann ich gefühlsmässig besser einordnen. Gleichzeitig weiss man, dass ein Bär gefährlich sein kann, wenn er will. Und doch wirkt er oft lieb und fast tollpatschig. Diese Mischung macht ihn besonders.
Möchtest du uns zum Schluss noch etwas mit auf den Weg geben – eine Anekdote oder einen Gedanken, der dir besonders wichtig ist?
Man sollte allen Tieren, die bei uns einwandern, eine Chance geben und sie als Wildtiere betrachten. Dass sie hierherkommen und bleiben, ist ein gutes Zeugnis für unsere Landschaft – etwas, das wir pflegen und wertschätzen sollten. Wenn es ihnen nicht gefallen würde, wären sie nicht hier. Wir sollten lernen, uns anzupassen. Manche Menschen sind stärker betroffen, andere weniger, aber letztlich betrifft es uns alle auf irgendeine Weise.
«Man sollte allen Tieren, die bei uns einwandern, eine Chance geben – das ist ein gutes Zeugnis für unsere Landschaft.»
Darüber hinaus ist es mir wichtig, dass man versteht, dass Grossraubtiere auch Wildtiere sind, wie viele andere auch. Wir müssen einen pragmatischen Weg finden mit ihnen umzugehen. Dieser Weg sollte von gegenseitigem Verständnis geprägt sein.

