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Genetik der Schweizer Luchspopulationen

Wir beantworten die häufigsten Fragen zu den Themen Genetik, Inzucht und deren Ursachen, genetischer Verarmung und Umsiedlungen von Luchsen.

1. Wie steht es um die genetische Vielfalt der Schweizer Luchs-Populationen?

Die Schweizer Luchse stammen von wenigen Gründertieren aus den slowakischen Karpaten ab. In den 1970er-Jahren wurden sie in der Schweiz wiederangesiedelt. Damals wurde der Genetik noch keine grosse Beachtung geschenkt, und einige der freigelassenen Tiere waren eng miteinander verwandt. KORA führt seit dem Jahr 2001 ein genetisches Monitoring beim Luchs durch. Dafür werden Gewebe- oder Blutproben von toten und gefangenen Luchsen gesammelt und untersucht. Um die Entwicklung der Luchse in der Schweiz anzuschauen, muss man die drei Schweizer Luchspopulationen getrennt voneinander betrachten. Die Alpenpopulation, begründet Anfang der 1970 Jahre, wies bereits in den 1990er Jahren eine deutlich reduzierte genetische Variabilität auf. Um die Jahrtausendwende reduzierte sich die Population und es kam zu einem weiteren Verlust der Variabilität. Die genetische Vielfalt in der Jurapopulation war von Beginn weg höher, weil die freigelassenen Tiere genetisch unterschiedlicher waren. Die Population in der Nordostschweiz wurde 2001–2008 mit Tieren aus den Alpen und dem Jura gegründet, wobei sich die Tiere aus dem Jura stärker durchgesetzt haben. Entsprechend ist die genetische Vielfalt höher als in den Nordwestalpen. Heute ist die Alpenpopulation stärker genetisch verarmt als die Jurapopulation, aber auch die Jurapopulation wird ohne Vernetzung an genetischer Vielfalt verlieren.

2. Was ist Inzucht?

Als Inzucht wird die Fortpflanzung von Individuen, die eng miteinander verwandt sind, verstanden. Inzucht kann zum Problem werden, da sie die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass genetisch bedingte Krankheiten und nachteilige Merkmale von der einen auf die nächste Generation vererbt werden. Nachteilige Merkmale oder Krankheiten können durch spontane Genmutationen verursacht werden. Inzucht führt dazu, dass solche schädlichen Mutationen eher zum Ausdruck kommen. Denn wenn sich nahe verwandte Tiere verpaaren, können sie ihren Nachkommen dieselbe Mutation weitergeben. Folglich besitzen diese keine gesunden Kopien des Gens. Es kommt also vermehrt zu Missbildungen oder gesundheitlichen Nachteilen. Mutationen passieren unabhängig davon, ob nun eine Population viele oder wenige Tiere einschliesst, die Verbreitung davon ist aber abhängig, wie nahe verwandt die Tiere in einer Population sind.
Inzucht kann auch zu einer geringen genetischen Variabilität führen, was die Fähigkeit einer Population auf Umwelteinflüsse oder Krankheiten zu reagieren, negativ beeinflussen kann. Ein wichtiger Faktor, der Inzucht in Wildtierpopulationen begünstigt, ist die geografische Isolation einer Population und damit der fehlende genetische Austausch zu anderen Populationen.

In Wildtierpopulationen kann Inzucht verschiedene negative Folgen wie eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, Missbildungen, histologische Schädigungen, verminderte Fortpflanzungsfähigkeit oder reduzierte Überlebenschancen von Jungtieren haben. Im schlimmsten Fall führt Inzucht zu einer Inzucht-Depression. Das heisst, ingezüchtete Individuen haben weniger Nachkommen, die bis zur Fortpflanzungsfähigkeit überleben, was über Generationen hinweg zu einer Abnahme der Populationsgrösse und im schlimmsten Fall zum Aussterben einer Art führen kann.

Wer mehr zum Thema genetische Vielfalt erfahren will, dem empfehlen wir das Kapitel 6 im «50 Jahre Luchs»-Bericht.

3. Was kann die Ursache von den ohrlosen Luchsen sein?   

Die Ursache der ohrlosen Luchse ist noch nicht bekannt oder bestimmt. Wie oben beschrieben, können verschiedene Faktoren das Auftreten von Ohrlosigkeit beeinflussen. Inzucht könnte ein häufigeres Auftreten dieses Phänomens begünstigen. Bei den jüngst fotografierten und medial weit verbreiteten ohrlosen Luchse im Jura handelt es sich um ein Geschwistertrio. Seit einigen Jahren tappten punktuell sowohl auf der französischen wie auch auf der Schweizer Juraseite einzelne ohrlose Luchse in die Fotofallen. Wie viele Tiere in der Population betroffen sind und ob es sich bei den fehlenden Ohren mitunter auch um Verletzungen und damit um ein nicht angeborenes Phänomen handeln könnte, ist Gegenstand von gemeinsamen Abklärungen zwischen dem Office français de la biodiversité (OFB), KORA und FIWI. Bisher konnte nur ein Luchs ohne Ohren veterinärmedizinisch untersucht werden, da er im Jahr 2022 in Frankreich dem Verkehr zum Opfer fiel. Die Untersuchung ergab unter anderem, dass die Ohrlosigkeit bei diesem Luchs angeboren war und dass er gut genährt starb.

4. Was kann gegen die genetische Verarmung gemacht werden?

In der Theorie gibt es verschiedene Möglichkeiten, um die genetische Vielfalt von Populationen zu erhöhen. Die Erhaltung der Lebensräume der Luchse und die Förderung von natürlichen Wildtierkorridoren und Wildbrücken zwischen den Lebensräumen ist dabei essenziell. In der Schweiz haben wir den Fall, dass der genetische Austausch zwischen den Luchspopulationen gering ist. Im Laufe der Jahre überwanden einzelne Luchse das Mittelland und pflanzten sich am neuen Ort teilweise fort. Dabei handelte es sich um Einzelfälle, die jedoch bereits einen positiven Effekt auf die genetische Vielfalt ausmachten. Natürlicherweise ist das Ausbreitungsverhalten der Luchse konservativ, was die Populationsvermischung zusätzlich erschwert. Deshalb kann es sinnvoll sein, Luchse umzusiedeln – entweder an einen bisher unbesiedelten Ort, von wo aus sie Trittsteinpopulationen gründen können, die als Vernetzungspunkt zu bestehenden Populationen dienen, oder dann in eine bestehende Population mit unterschiedlichem Genpool, wo sie die genetische Vielfalt erhöhen können. Es ist jedoch notwendig, parallel dazu die Vernetzung der Lebensräume zu verbessern, ohne die jede Massnahme vergeblich wäre. Massnahmen zur genetischen Sanierung müssen durch ein wissenschaftliches genetisches Monitoring begründet und begleitet werden. Auch wenn eine Bluterfrischung aus genetischer Sicht sinnvoll ist, spielt die menschliche Dimension auch eine Rolle. Solche Initiativen müssten unbedingt aus einer Einigung zwischen allen Interessengruppen hervorgehen. Ein gesellschaftlicher und politischer Konsens ist von grösster Bedeutung und im Interesse aller, auch des Luchses. In der Schweiz ist die Notwendigkeit für eine genetische Sanierung in allen Populationen mit unterschiedlicher Dringlichkeit gegeben. Die Alpenpopulation steht mit ihrer geringen genetischen Vielfalt hier im Vordergrund.

5. Wieso siedelt die Schweiz Luchse aus der Schweiz in andere Regionen um?

Im Jahr 2024 wurden zwei Luchse aus dem Schweizer Jura in das sächsische Erzgebirge (D) umgesiedelt. Dort tragen die beiden Individuen dazu bei, eine neue Trittsteinpopulation aufzubauen, die zur Vernetzung europäischer Luchspopulationen beitragen soll. Die beiden weiblichen Luchse wurden aus der Jurapopulation entnommen, da sie für den neuen Ort genetisch geeignet sind und mit Luchsen aus den Karpaten gemischt werden, sodass die genetische Variabilität in Sachsen von Beginn an hoch ist. Luchse werden nur aus Gebieten entnommen, wo die Anzahl Luchse ausreichend hoch ist. Dadurch wird die Luchspopulation zahlenmässig nicht geschwächt. Durch den Aufbau von neuen Trittsteinpopulationen wie in Sachsen wird aber die Gesamtpopulation der Karpatenluchse in Europa (zu der auch die Schweizer Luchspopulationen gehören) nachhaltig gestärkt.

6. Gibt es das Problem der geringen genetischen Variabilität auch bei anderen Tierarten?

Ja, das Problem gibt es in der Schweiz auch bei anderen wildlebenden Arten, wie zum Beispiel beim Steinbock, dem Biber oder beim Bartgeier.